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Das Leben und Ben

#5 Er hält mir ziemlich denselben Vortrag wie vor ein paar Minuten seine Frau.

„Meinen Eltern ist es egal ob ich was lerne.“

„Ben? … Ben? … Ben!“

Ich male mir gerade aus, wie es wohl wäre, wenn man einfach die Zeit stoppen könnte, als ich durch das Angestupse von meiner Lehrerin, rabiat in den Unterricht zurückgeholt werde.

„Ich habe dich was gefragt Ben.“

„Ich habe nicht zugehört.“

„Das haben wir gemerkt.“ sagt Frau Keller und die ganze Klasse lacht.

Naja, nicht die ganze Klasse. Pedro und ich lachen nicht.

Pedro ist mein Freund hier. Mein einziger Freund den ich habe, seit ich bei meiner Pflegefamilie lebe.

Schätze wir halten zusammen, weil wir die Aussenseiter sind.

Irgendwie schwierig Anschluss zu finden. Er ist zwar schon ein paar Wochen länger in dieser Klasse als ich, aber wir sind beide nicht von hier und mitten im Schuljahr dazugestossen.

Und mal unter uns, wir gehören hier nicht hin. So fühlt sich das zumindest an.

„Was ist denn jetzt Ben? Würdest du meine Frage noch beantworten?“

„Was war denn die Frage?“

„Ben.“ Frau Keller, die noch immer neben meinem Pult steht, legt mir ihre Hand auf die Schulter. „Wie willst du etwas lernen, wenn du nie aufpasst?“ Ich höre wie ein paar hinter mir kichern.

„Ich passe ja auf. Aber ich finde es gerade nicht sehr interessant.“

Frau Keller wirkt etwas verärgert. „Es ist nicht immer alles hochinteressant, aber trotzdem muss man immer dazulernen. So ist das Leben nun mal Ben.“

So ist das Leben? Man muss auch die langweilige Scheisse lernen, ob man will oder nicht?

Das Leben. Ich verstehe noch vieles nicht. Mein Leben zum Beispiel, ergibt irgendwie keinen Sinn.

„Wie heisst denn jetzt der Fluss? Das weisst du doch Ben. Auf deinem Schulweg läufst du ja immer über eine Brücke über ihn.“

Ohne sie anzusehen sag ich „Mug“

Die Klasse lacht wieder.

„Nein Ben. Murg. Der Fluss heisst Murg. Und welchem grossen Fluss entspringt sie?“

Ich kenne nur zwei grosse Flüsse mit Namen und rate. „Limmat.“

„Nein, nicht der Limmat.“

„Dann vielleicht dem Rhein?“

„Ben, du sollst nicht raten. Es waren Hausaufgaben, die Flüsse auf dieser Karte zu lernen.“ Sie wedelt mit einem Blatt rum, auf dem ein paar Gewässer der Region eingezeichnet sind. „Du hast wohl deine Hausaufgaben nicht gemacht. Dann wüsstest du nämlich, dass weder der Rhein und erst recht nicht die Limmat hier drauf sind.“ Frau Keller läuft vor zu ihrem Pult und knallt das Blatt auf den Tisch.

„Wie heisst denn jetzt der Fluss?“ will ich wissen.

„Ja, wie heisst den jetzt der Fluss? Kann es jemand, der die Aufgaben macht, Ben sagen?“ fragt Frau Keller die Klasse mit schnippischem Unterton.

„Thur.“ antwortet Kai.

Ich hasse Kai. Aber egal. Ich mag niemanden in dieser Klasse. Alles Idioten.

Ausser Pedro.

Die Schulklingel meldet sich. Endlich. Schule aus.

Ich packe meinen Schulkram in meinen Rucksack und will den anderen nach zur Garderobe.

„Warte kurz.“ hält mich Frau Keller zurück. „Ben. Du musst im Unterricht wirklich besser aufpassen und deine Hausaufgaben machen. Das ist wichtig. Verstehst du das?“

„Nicht wirklich..“

„Was meinst du mit nicht wirklich? Du musst lernen. Wie willst du sonst, wenn du gross bist, mal einen Beruf lernen und arbeiten?“

Wozu muss ein Astronaut wissen, wie der Fluss in diesem Kaff heisst? Denke ich mir.

„Ich muss wohl mit deinen Eltern reden.“

Meine Eltern? Die habe ich seitdem sie mich ins Heim abgeschoben haben nicht mehr gesehen.

„Meinen Eltern ist es egal ob ich was lerne.“

Ich sehr Frau Keller an, dass sie nachdenkt.

„Oh Ben … ich meine nicht deine Eltern-Eltern. Ich meine Herr und Frau Nater. Deine Pflegefamilie. Mit ihnen werde ich reden.“

„Kann ich dann wieder ins Heim zurück?“

„Äh… nein, ich denke, du darfst trotzdem noch bei ihnen bleiben.“ Frau Keller fährt mir durch die Haare und lächelt mich mit weit geöffneten Augen so komisch an.

„Ich darf? Ich darf nicht. Ich muss!“ schrei ich sie an und renne aus dem Klassenzimmer.

Ich ziehe meine Schuhe an, werfe meine Schulfinken in die Garderobe, nehme meinen Fussball von der Bank und renne aus dem Schulhaus.

Vor der Türe sitzt Pedro am Boden.

„Hey, ich dachte schon sie hat dich weggesperrt oder so. Die war ja voll wütend heute.“

„Nein. Hat sie nicht. Die doofe Kuh.“ antworte ich Pedro.

„Sollen wir noch bisschen spielen oder musst du nachhause?“ Pedro zeigt auf meinen Ball.

„Klar. Lass uns spielen! Ich will nicht nachhause. Musst du nicht heim?“

„Nein. Ist eh keiner zuhause ausser meinem Bruder.“

Wir rennen los zum Fussballfeld unserer Schule und spielen bis der Hausabwart uns wegschickt, weil es Zeit wäre, weil es anfängt einzudunkeln.

„Magst du mit zu mir kommen?“ frag ich Pedro. Er nickt und wir trotten los. Über die dämliche Murg, durch die dämlichen Quartiere, über die dämliche Hauptstrasse mit der dämlichen Bahn, bis wir dann bei den gelben, dämlichen Würfelhäusern angekommen sind.

Ich klingle an der verschlossenen Haustüre.

Frau Nater, die ich eigentlich Marianne nennen soll, öffnet die Türe.

„Wo warst du denn schon wieder?!“ schreit sie mich an und fuchtelt mit ihren Armen. „Wir haben doch darüber gesprochen, dass du nach der Schule immer direkt nachhause kommen sollst! Du kannst nicht immer einfach rumlungern! Wir haben uns Sorgen gemacht und dich gesucht!“

Sie haben wirklich mit mir gesprochen, weil ich nie direkt von der Schule heimkomme. Was soll ich sagen.. Ich habe halt wichtigeres zu tun. Und übrigens, richtig gesucht haben die mich nicht. Wir waren auf dem Fussballplatz. Direkt beim Schulhaus. So schwer ist das nicht, mich da zu finden.

„Wen hast du denn da mitgebracht?“ Will Frau Nater wissen.

„Das ist Pedro. Mein Freund. Er geht mit mir zur Schule.“

„Müsste er nicht auch zuhause sein?“ fragt sie mich.

„Nein.“ sag ich.

„Ist er der Grund, warum du nie nachhause kommst?“

„Was? Nein. Pedro hat damit nichts zu tun … dürfen wir was zu essen?“

Ihre Mimik lässt nach wie vor darauf schliessen, dass sie wütend ist. „Nein. Dein Freund geht jetzt nachhause und du, junger Mann, kommst rein!“ Sie zieht mich am Arm ins Haus und schliesst Pedro die Türe vor der Nase zu.

„Was denkst du dir eigentlich immer? … Du machst mich noch wahnsinnig!“

„Ist das Ben?“ ruft Herr Nater, den ich übrigens Jakob nennen soll, aus dem Wohnzimmer.

„Ja! Der Feine Herr ist tatsächlich auch mal noch aufgetaucht!“ ruft sie ihm zu.

Er kommt aus dem Wohnzimmer direkt auf mich zu. Ich seh im an, dass er wütend ist. Er hat denselben Gesichtsausdruck wie Herr Burkhardt, wenn der sauer ist.

Herr Nater bleibt vor mir stehen und gibt mir eine Ohrfeige. „Du weisst wofür du die verdient hast?“

Der schlimmste Schmerz lässt rasch nach, aber das pulsierende Brennen an meiner Linken Wange hält an. Tränen fangen an zu drücken und meine Augen werden feucht.

Er hält mir ziemlich denselben Vortrag wie vor ein paar Minuten seine Frau. „Und jetzt zieh dein Pyjama an und putz dir die Zähne! Heute geht es ohne Abendessen ins Bett!“ befiehlt er mir.

Das mach ich jetzt auch. Ich will ihn nicht noch wütender machen.

Ich bin schnell umgezogen und stehe am Spülbecken im Bad und putze meine Zähne. Die Wange brennt noch immer leicht.

Ich spucke die Zahnpasta aus, putz meinen Mund ab und gehe in mein Zimmer.

Ich ziehe meinen Walkman unter dem Kissen hervor, setze meine Kopfhörer auf, drücke auf Play und leg mich ins Bett.

Während die Drei Fragezeichen in meinen Ohren durch Rocky Beach fahren mit ihren Fahrrädern, muss ich an mein eigentliches Zuhause denken. An die Stadt, ans Heim, an Jasa und Edona, meine Freunde und ich muss wieder weinen.

Ich weiss nicht, ob das ok ist, weil das halt schon seit langem immer mein Ritual ist vor dem Einschlafen. Es muss wohl.

Von wotsefak

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