„Wie geht es ihnen heute?“ fragt er mich, während er irgendwas auf seinen Notizblock kritzelt. Ich bin nicht freiwillig hier. Wurde bei einer Schlägerei aufgegabelt von den Bullen. Wegen Körperverletzung und weil ich ein bisschen Zeug dabei hatte, gehören die nächsten 4 Monate, regelmässige Treffen mit diesem Psychotherapeuten der Suchtberatung, zu meiner Strafe dazu. „hmm.. weiss nicht.“ Er blickt von seinem Block hoch. „Woran liegt es, dass sie nicht wissen wie es ihnen geht?“ „Ich schätze, ich denke nicht darüber nach, wie es mir geht.“ Er kritzelt weiter. „Denken sie, dass das die richtig Methode ist? … nicht Nachdenken?“
Was will er denn hören? Dass es besser wäre, wenn ich mir permanent vor Augen führe, dass ich diese Welt nicht mag? Dass ich nie irgendwie das Gefühlt hatte, hier reinzupassen? Dass ich die meisten Menschen nicht verstehen kann? Warum man so viele Dinge machen muss, die man gar nicht möchte, nur weil man irgendwie dazugehören sollte? Ich zucke mit den Schultern.
„Setzen wir wo anders an. Was sind denn die guten Dinge in ihrem Leben?“ „Meine Freunde … Musik … Skateboarden … Videospiele … Bücher und Filme. Ich mag Filme.“ „Das ist doch etwas. Haben sie viele Freunde?“ „Nein. Sollte ich viele haben?“ „Nein. Das ist bei jedem unterschiedlich. Es gibt da nicht wirklich ein richtig oder falsch.“ „Na dann…“ Er notiert wieder etwas. „In der Anamnese steht, dass sie ihre Ausbildung abgeschlossen haben und aktuell Gelegenheitsjobs verrichten?“ „Nicht mehr. Ich mache gerade ein Praktikum.“ Er schreibt weiter. „Und wo machen sie dieses Praktikum?“ „Auf einer gerontopsychiatrischen Abteilung.“ „Interessant. Wie sind sie dazu gekommen?“ „Eine Bekannte hat mir gesagt, dass ich das machen könnte.“ „Und da haben sie sich gedacht, dass sie das mal machen könnten?“ Er schaut mich leicht skeptisch an. „Ja ungefähr so.“ „Was ist denn der Grund, weshalb sie nicht in ihrem Ausbildungsfeld tätig sind?“ „Weil der Job scheisse ist. Der macht keinen Sinn.“ „Das ist ihre Erkenntnis nach dreijähriger Ausbildung?“ „Nein, die Erkenntnis hatte ich schon nach ein paar Tagen.“ „Und sie haben trotzdem die Lehre abgeschlossen?“ „Ich musste ja. Alle haben immer gesagt, dass ich einen Abschluss machen muss. Dass das wichtig sei.“ „Hätten sie denn lieber einen anderen Beruf erlernt?“ „Nicht wirklich.“ „Sie haben keinen Traumberuf? Oder einen Berufswunsch, dem sie lieber nachgegangen wären?“ „Nein.“ Wieder kritzelt er auf seinem Notizblock rum. „Warum genau haben sie sich denn damals für diese Ausbildung entschieden?“ „Weil man mir gesagt hatte, ich solle das machen … und ich hab halt versucht, in dieser Welt Fuss zu fassen.“ „Was meinen sie damit, in dieser Welt Fuss zu fassen? In der Arbeitswelt?“ „Eigentlich meine ich damit eher die Mehrheit der Gesellschaft … man muss ja irgendeine Ausbildung machen und einen akzeptierten Job haben. Ist doch einer der Eckpfeiler dieses Systems.“ Er sieht mich an. Ein kurzer Moment Stille. „Sie denken, sie gehören nicht zur Gesellschaft?“ Ich nicke. „Weshalb denken sie das?“ „Weil es so ist. Da ist kein wirklicher Platz für mich. Ich passe wohl einfach nicht dazu.“ Ich schaue auf meine Uhr. „Haben sie es eilig?“ will er wissen. „Nein. Aber will nicht hier sein und warte nur darauf, dass diese Sitzung endlich durch ist.“ „Ist ihnen das hier unangenehm?“ „Ja.“ „Warum ist ihnen das unangenehm?“ „Weil ich gezwungen werde hier zu sein und ich eigentlich gar nicht mit ihnen über mich reden mag. Sie stellen mir Fragen, die ich nicht wirklich beantworten möchte. Warum auch? Mir hat auch nie jemand meine Fragen beantwortet. Das System hat mich nie gefragt, wie es mir geht und was ich möchte. Einen Dreck hat es sich interessiert. Und jetzt plötzlich, ist das Interesse da? Nach 19 Jahren? … ihr könnt mich mal!“ Ich spüre wie so ein Druck in mir aufsteigt, als würde ich gleich platzen. „Ich sehe, dass sie wütend sind … welche Fragen hat man ihnen denn nie beantwortet? … vielleicht sollten wir da ansetzten.“ „Warum wurde ich ins Heim abgeschoben? Ich wollte da nicht hin. Warum hat man mich in Pflegefamilien gesteckt? Ich wollte da nicht hin. Warum durfte ich nie mitentscheiden? Warum entscheiden immer andere, was das Beste für einem ist? Warum hat man mir nie die Hand gereicht, nur die Hand erhoben? Keinen interessiert es wie es mir geht. Wichtig ist nur, dass ich ruhig bin und mache was man mir sagt. Ich hasse das!“ Ich stehe auf und nehme meinen Rucksack. „Mir egal ob die Sitzung zu Ende ist und ich scheiss auf die Konsequenzen! Ich gehe jetzt!“ „Warten sie. Ich möchte nicht, dass sie so wütend rausgehen. Und ich möchte, dass wir die Sitzungen weiterführen können … seien sie ehrlich zu sich selber. Die Konsequenzen dafür möchten sie nicht tragen.“ Er schaut mich mit ernster Mine an. Bei dem Punkt mit den Konsequenzen hat er schon irgendwie recht. Ich weiss auch nicht. „Hören sie. Der nächste Termin steht. Denken sie darüber nach, ob sie ihn wahrnehmen oder ob sie wirklich die andere Option möchten.“ Wir schweigen uns kurz an.
Ich verlasse das Zimmer, die Praxis, gehe die Treppe nach unten und merke wie meine Augen immer feuchter werden. Zu viele Gedanken und Erinnerungen die mir durch den Kopf schiessen. Ich wische mir die Tränen aus dem Gesicht, setze meine Kopfhörer auf, dreh die Musik laut, ziehe mir die Kapuze über den Kopf und gehe durch die Eingangstüre auf die Strasse raus.